Impulse zur beziehungsorientierten Organisationsentwicklung
In Harmonie vereinzelt
Der Artikel erschien im April 2025 in Ausgabe 1 des Konfliktlinien-Magazins zum Thema: Lasst uns streiten!
Der Artikel erschien im April 2025 in Ausgabe 1 des Konfliktlinien-Magazins zum Thema: Lasst uns streiten!
Text: Lukas Perka
Es läuft unsere Weiterbildungsreihe »Kraftvolle Strukturen gestalten«, das Thema des Tages sind Konflikte rund um Raum. Ich frage die Gruppe, welche Konflikte sie in diesem Bereich erleben. Eine Teilnehmerin schildert, dass sie in ihrer Organisation viel Vereinzelung erlebt, die sich sinnbildlich im Rückzug aller Mitarbeiter*innen in ihre jeweiligen Räume ausdrückt. Ich bitte sie, einen Grundriss der Büroräume mit Kreide auf den Boden zu malen und mehrere Personen aus der Seminargruppe zu einem Standbild anzuordnen, das die Situation abbildet. Sie positioniert alle Beteiligten getrennt voneinander in ihren Büroräumen, jeweils mit ihren Bildschirmen beschäftigt. Im Anschluss öffnen wir die Situation zur Bearbeitung. Die Fallgeberin und ich als Leitung der Übung nehmen nach und nach Veränderungen der Positionen und Körperhaltungen der Personen im Standbild vor. Nach zahlreichen Interventionen findet sich das Team im vorher leeren Gemeinschaftsraum der Organisation ein. Die Beteiligten sind ratlos, was sie dort miteinander anfangen sollen. Ich erinnere mich, wie verblüfft ich als Außenstehender bei der Begleitung dieser Übung war. In der anschließenden Reflexion wurde deutlich: Der gemeinsame physische Raum hatte sich gefüllt, aber der Beziehungsraum war leer geblieben. Sich von der eigenen Arbeit abzuwenden, ihre vermeintliche Dringlichkeit zu relativieren und sich eine Pause zu erlauben, nahmen die Teilnehmer*innen der Weiterbildung überwiegend als angenehme Entlastung wahr. Der Schritt in den gemeinsamen Raum hingegen löste bei den meisten Stress aus: Bin ich hier wirklich willkommen? Was kann und will ich den anderen von mir zeigen? Muss ich nun irgendetwas liefern, um die spürbare Leere zu füllen?
Ein in der Methode begründetes Phänomen, könnte man meinen. Schließlich kamen in der Übung ja nur Stellvertreter*innen der tatsächlichen Teammitglieder zusammen. Die realen Personen hätten sich möglicherweise über die gemeinsame Auszeit gefreut und sich viel zu sagen gehabt. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus unserer Arbeit mit mehr als 200 Personen aus ca. 100 zivilgesellschaftlichen Organisationen in Sachsen ist diese Deutung eher unwahrscheinlich. Vielmehr zeigt die Übung ein typisches Bild für die Dynamik in vielen Vereinen und Initiativen: Alle haben extrem viel zu tun, eilen von Aufgabe zu Aufgabe und wenden sich nach einem abgeschlossenen Projekt statt der Kollegin oder dem Mitstreiter lieber gleich dem nächsten Vorhaben zu. Trotz eines in vielen Gruppen klar formulierten solidarischen Anspruchs erleben sich viele in der Praxis oft als vereinzelte und erschöpfte Kämpfer*innen in sich immer weiter zuspitzenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Um dieser Vereinzelung und Erschöpfung zu begegnen, braucht es mehr Kontakt. Doch was steht dem im Weg? Ist für die Pflege von Beziehungen im nahen Arbeitsumfeld angesichts der vielfältigen gegenwärtigen Krisen schlicht keine Zeit? Oder stimmt die nach der oben beschriebenen Übung nahe liegende Deutung, dass das Miteinander uns Angst macht?
»Eine Quelle der Beziehungslosigkeit
in zivilgesellschaftlichen Organisationen ist die
Angst vor dem Unterschied.«
Dass die Fokussierung auf den nie versiegenden Aufgabenfluss auch eine Flucht vor dem Kontakt mit anderen ist? »Ich habe kein Gegenüber« – dieser Satz ist mir als eine wiederkehrende Problembeschreibung der Einsamkeit in der eigenen Organisation aus unser Seminarreihe in Erinnerung geblieben. Wie kommt es, dass wir zwar zusammen sind, uns Räume teilen und Projekte auf die Beine stellen – doch am Ende so wenig Verbundenheit erleben? Eine Hypothese, die wir auf Basis unserer Erfahrungen in den Projekten der letzten Jahre entwickelt haben: Eine Quelle der Beziehungslosigkeit in zivilgesellschaftlichen Organisationen ist die Angst vor dem Unterschied. In vielen Kontexten wirken extreme Anpassungsdynamiken an in der Regel ungeschriebene und unausgesprochene Gruppennormen. Um dazuzugehören, passen wir uns an den abgespürten Gruppenkonsens an, etwa in unserer Sprache, unserem Kleidungsstil, unserer Gestik, unserem emotionalen (Nicht-)Ausdruck, unseren Standpunkten. Das sorgt an der Oberfläche für Harmonie – und führt untergründig zu Spannungen und Erschöpfung. Wir investieren viel Energie, um wahrzunehmen, was unser Gegenüber braucht und verlieren darüber den Bezug zu unseren eigenen Bedürfnissen. Menschen, die dieses Verhaltensmuster verinnerlicht haben, sind auf den ersten Blick sehr angenehme Kolleg*innen: Sie begegnen allen freundlich und empathisch, verfolgen aufmerksam das Geschehen und übernehmen, ohne zu murren Aufgaben für die Gruppe. In Seminargruppen, in denen ich eine derartige Zugewandtheit erlebe, spüre ich oft eine Ambivalenz in mir. Auf der einen Seite bin ich dankbar und froh über das unkomplizierte Arbeiten, doch mit der Zeit meldet sich bei mir ein Misstrauen: Ist der wohlwollende Bezug auf die Inhalte und Erfahrungen der anderen echt – oder eine sozial erwünschte Fassade? Würde irgendjemand mir signalisieren, wenn etwas, was ich tue, für Ärger sorgt? Habe ich in diesem Sinne ein Gegenüber?
Ein weiteres Beispiel aus unser Seminar reihe, das die Ängste vor dem Ausscheren aus dem Kollektiv illustriert: eine Gruppenübung zum Thema Macht. Zwei Personen bauen im Seminarraum einen Parcours aus Stühlen, Seilen und Bettlaken auf, den die restliche Gruppe anschließend durchlaufen soll. Dabei haben alle Gruppenmitglieder verbundene Augen. Nur eine Person kann sehen und die anderen durch den Parcours führen, darf dabei aber als einzige nicht sprechen. Während des Aufbaus geht die Gruppe vor die Tür. Sie muss bestimmen, wer von ihnen die anderen als Sehende*r führen soll. Der Entscheidungsprozess ist zäh. Große Vorsicht ist spürbar, einen ersten Vorstoß zu machen. In der Reflexion wird deutlich, dass das Gefährliche darin besteht, jemanden durch die Vergabe einer Sonderrolle aus der Gruppe herauszuheben. Es fühlt sich heikel an, einen Unterschied zu machen zwischen einer einzelnen Person und der Gruppe. Was hindert uns, in dieser Situation unverblümt zu sagen, dass wir uns die Rolle zutrauen und sie gerne übernehmen würden? Damit hätten wir mehrere Dinge ausgedrückt, die wahrgenommenen Gruppennormen entgegenstehen: Wir würde damit sagen, dass wir uns für kompetent halten – und nicht nur dass: Wir halten uns sogar für kompetenter als andere, besser geeignet, um diese Rolle auszuüben. Zudem würde der Vorstoß ausdrücken, dass die besondere Sichtbarkeit und Bedeutung, die mit der Rolle als Sehende*r einhergehen, für uns attraktiv sind – dass wir gerne mehr Raum einnehmen wollen als andere. Und falls uns das Feld nicht einfach überlassen wird, sondern sich weitere Kandidat*innen melden sollten, könnte es noch wilder werden: Wir wären möglicherweise sogar bereit, um den Platz zu konkurrieren!
Kompetenzunterschiede zu thematisieren, Anerkennung und Bedeutung für sich zu beanspruchen, Konkurrenzdynamiken zu eröffnen – all das ist in den meisten Organisationen tabu. In Kontexten, wo diese Tabus nicht wirken, können Unterschiede sichtbar werden. Wir können besprechen, was wir wollen, was wir können und brauchen. Wir können – und müssen auch regelmäßig – darüber in den Konflikt gehen. Denn je mehr Unterschiede im Raum sind, desto mehr gibt es zu verhandeln. Was aber sind die Konsequenzen, wenn wir uns in unserer Verschiedenheit nicht zeigen und Konflikte vermeiden? Das wirkt paradox, denn auf den ersten Blick verspricht die Symbiose ja Nähe und Verbundenheit. Wir sind alle gleich und haben uns lieb, so der oberflächliche Eindruck. Darunter liegen in der Regel jedoch zahlreiche Enttäuschungen, Verletzungen und Kränkungen. Denn wir alle wollen mit unseren Fähigkeiten und unserer Persönlichkeit gesehen werden, uns willkommen fühlen und Anerkennung erfahren. Einen Großteil unserer Kompetenzen und Charakterzüge in einem symbiotischen System als »falsch« zu erleben und daher zu verstecken, ist mit Schmerz und Scham verbunden, was wiederum zu einem zunehmenden Rückzug voneinander führt. Zurück zur Übung vom Anfang und dem dabei entstandenen Unbehagen im Gemeinschaftsraum: Gehen wir bewusst oder unbewusst davon aus, dass wir mit etwas Persönlichem, das wir von uns zeigen, wahrscheinlich Irritation auslösen oder Ablehnung erfahren, dann ist es ein wirkungsvoller Schutzmechanismus, uns ganz auf unsere Funktion zu beschränken und auf unsere Aufgaben zu fokussieren.
»Auch wenn wir Ängste vor Abwertung
oder Ablehnung persönlich wahrnehmen, sind ihre
Ursachen meist strukturell.«
Es ist zentral, die geschilderten Probleme nicht als individuelles Versagen zu begreifen. Auch wenn wir die Ängste vor Abwertung oder Ablehnung persönlich wahrnehmen, sind ihre Ursachen meist strukturell. Wenn in einer Organisation systematisch die Aufgabenebene gegenüber der Beziehungsebene bevorzugt wird, schlägt sich das in der Gestaltung der Stellenbeschreibungen, der Projektziele, der Teambesprechungen und vielen weiteren formalen Strukturen nieder, die in aller Regel so hohe Arbeitsanforderungen stellen, dass für Beziehung kaum Platz ist. Hier eröffnen sich zahlreiche Möglichkeiten zur Veränderung. Kleine Rituale können der Beziehungsebene mehr Raum verschaffen, etwa eine Verbindungsrunde zum Anfang jedes Teamtreffens, bei der alle teilen, mit welchen Gefühlen sie in das Treffen gehen. Rahmenvereinbarungen wie das Postulat »Störungen haben Vorrang« können den Anspruch verregeln, nicht über Unbehagen oder Irritation hinweg zu arbeiten, sondern sie besprechbar zu machen und als wichtigen Hinweis auf bislang unberücksichtigte Themen im Arbeitsprozess zu betrachten. Rollen wie die einer Teamkoordination können explizit das Mandat und Ressourcen dafür erhalten, Konflikt- und Beziehungsthemen in den Blick zu nehmen und zu bearbeiten. Damit derartige Veränderungen nicht zur zusätzlichen Belastung im Sinne eines Das-jetzt-auch-noch werden, sind möglicherweise aber strukturelle Einschnitte auf anderen Ebenen nötig: Es braucht eine Prüfung, ob die gesetzten Ziele der Organisation mit den bestehenden finanziellen und personellen Ressourcen überhaupt umsetzbar sind, ohne dass die Mitarbeiter*innen permanent ihre Grenzen überschreiten. Was nach einer technischen Machbarkeitsstudie klingt, berührt auf einer tieferen Ebene die impliziten Gruppennormen, die für die Gestalt der Struktur zentral sind. So tappten mein Kollege und ich im Begleitungsprozess eines krisengeschüttelten Teams beispielsweise einmal mehrere Sitzungen lang im Dunkeln und fanden kaum Ansatzpunkte für konstruktives Arbeiten. Der Wendepunkt war eine Sitzung, bei der wir alle Teammitglieder baten, die in der Gruppe wirkenden Normen aufzuschreiben. Am Ende der Sammlung verdichteten wir sie gemeinsam zu einem Satz: »Alles andere im Außen ist wichtiger als wir.« Dieser Satz erscheint mir exemplarisch für viele zivilgesellschaftlichen Organisationen, mit denen wir arbeiten. Als werteorientierte Zivilgesellschaft in Sachsen sind wir seit Jahren permanent in der Defensive. Die gesellschaftlichen Verhältnisse verschlechtern sich ohne Unterlass und wir – als gefühlt letzte Bastion der sozialen Gerechtigkeit, der Antidiskriminierungsarbeit, des Klimaschutzes – müssen mit aller Macht dagegen an-kämpfen. Koste es, was es wolle. Der Preis dieser radikalen Außenorientierung ist immens: Für die Wahrnehmung unserer Grenzen ist keine Zeit. Für die Pflege unseres Miteinanders im Team ist keine Zeit. Für die Auseinandersetzung mit Angst und Verzweiflung angesichts der sich zuspitzenden Verhältnisse ist keine Zeit. Für das Feiern kleiner Erfolge, für die Würdigung der Beiträge anderer ist keine Zeit. Für Dissens, Konflikt und Auseinandersetzungen ist keine Zeit. Für die Integration neuer Impulse, für das Experimentieren mit alternativen Formaten und Strategien, für lustvoll-kreative Prozesse – keine Zeit. Auch für uns selbst bleibt keine Zeit, weder als Einzelne noch als Gruppe. Erst wenn wir Sachsen vor den Rechten bewahrt und das Klima gerettet haben …
Wenn wir strukturelle Änderungen auf der formalen Ebene beschließen, ohne uns mit dieser non-formalen Seite der Struktur zu beschäftigen, werden die Anpassungen ins Leere laufen. Definiert ein Team Zeiten für die Pflege von Beziehungen – seien es ein fester Supervisionsrhythmus, regelmäßige gemeinsame Mittagessen oder institutionalisierte emotionale Austauschräume zur eigenen Arbeit – ist das ein wichtiger Schritt. Besteht allerdings weiterhin die Norm, dass nur das Wirken der Organisation im Außen bedeutsam ist, werden diese Zeiten nicht zu echten Beziehungszeiten. Dann werden etwa parallel Mails gecheckt und Telefonate geführt. »Wichtige« Termine überschneiden sich ungünstigerweise mit Teamsitzungen, sodass viele doch nicht dabei sein können. Und aus der gemeinsamen Zeit wird Zeitverschwendung. Eine formal definierte Beziehungszeit füllt sich nicht automatisch – genauso wie ein voller Gemeinschaftsraum ein leerer Beziehungsraum sein kann. Im ATCC-Ansatz arbeiten wir mit einem doppelten Strukturbegriff. Wir betrachten neben der formal geregelten, auf Papier festgehaltenen Ebene immer auch die non-formale Ebene der Strukturen: ihre Beziehungsseite, die Praxis, die den formalen Rahmen im Organisationsalltag ausfüllt. Die non-formale Seite ist der lebendige Anteil einer Struktur. Formal bin ich in meiner Rolle zum Beispiel Leitung, habe klar definierte Aufgaben und Verantwortlichkeiten. Non-formal fülle ich diese Rolle sehr unterschiedlich aus: mal als visionärer Antreiber, mal als empathischer Zuhörer, mal als strenger Bürokrat. In diesem non-formalen Bereich liegt das Potential, uns in unserer Verschiedenheit zu zeigen – und mit unserer Angst vor Verletzungen.
Damit wir uns in unserer Organisation sicher genug fühlen, um sichtbar zu werden, brauchen wir Vertrauen. Wir brauchen das Vertrauen, dass wir uns mit unseren Ideen, unseren Gefühlen, unseren Wahrnehmungen zeigen können, auch wenn sie vom Gruppenkonsens abweichen – und zwar ohne dafür lächerlich gemacht oder abgewertet zu werden. Der Grad an Vertrauen, der in einer Organisation herrscht, ist ebenfalls Teil der non-formalen Seite ihrer Struktur. Ich muss nicht mit jeder einzelnen Person in meinem Team ein individuelles Vertrauensverhältnis aufbauen, sondern auf den Rahmen vertrau-en können. Die Leitungsrolle trägt eine große Verantwortung für das Vertrauen in der Organisation. Denn ein vertrauensvoller Rahmen entsteht nur, wenn einzelne den Mut haben, sich als erste verletzlich zu zeigen. In unseren Seminaren tragen wir zum Beispiel dazu bei, indem wir an allen Runden und fast allen Übungen teilnehmen und beim Teilen persönlicher Erfahrungen den Anfang machen. Damit gehen wir in Vorleistung und öffnen den Raum für die Teilnehmenden, eben-falls etwas Persönliches zu zeigen. Zugleich geben wir dabei die Orientierung für einen dem Kontext angemessenen Grad an Offenheit und Tiefe, um unstimmigen Selbstentblößungen vorzubeugen.
»Wann immer wir uns verletzlich zeigen,
brauchen wir ein Gegenüber, das uns eine Resonanz
zu dem gibt, was wir einbringen.«
Doch eine einzelne Person hat es nicht alleine in der Hand, ob Vertrauen entsteht. Wann immer wir uns verletzlich zeigen, brauchen wir ein Gegenüber, das uns eine Resonanz zu dem gibt, was wir einbringen: Das berührt mich – irritiert mich – oder inspiriert mich – oder oder … Verletzlichkeit ohne Resonanz schafft große Unsicherheit. Wenn ich mich aus der Deckung wage und die Gruppe mich im Unklaren lässt, was meine Äußerung bei ihnen auslöst, bin ich angespannt und potentiell beschämt. War ich unangemessen oder zu viel? Liege ich mit meiner Wahrnehmung völlig daneben? Auch Resonanz braucht einen Rahmen, der entsteht, indem Personen explizit dazu einladen und als Vorbilder vorangehen. Häufig ist unser Impuls, nur »nette« Resonanz zu teilen, doch ausgesuchte Freundlichkeit ist gerade nicht vertrauensbildend. Bei einer Übung in unserer am Anfang beschriebenen Seminarreihe beispielsweise sollte jede Person verdeckt aufschreiben, als welches Tier sie sich in der Gruppe erlebt. Anschließend zogen wir die Tiere nacheinander und versuchten zu erraten, wer das Faultier, das Erdmännchen oder den Bernhardiner aufgeschrieben hatte. Diese Runde habe ich als tiefen Kontaktmoment erlebt: Die Tiere luden uns ein, über die Qualitäten jedes Mitglieds unserer Gruppe nachzudenken. Ebenso thematisierten wir die jeweiligen Schattenseiten: Was macht mir an diesem Tier Angst? Die Konfrontation mit verunsichernden Anteilen und das Wertschätzende konnten nebeneinanderstehen. Für mich machte die Übung deutlich spürbar, dass es zum Vertrauensaufbau beides braucht: einerseits mich zu zeigen, andererseits von den anderen gesehen zu werden.
Vor mehreren Jahren lud ich die inzwischen verstorbene Gründerin des Berliner Paulo Freire Instituts Ilse Schimpf-Herken zu einem Seminar mit BFD-Freiwilligen ein, um dort einen Biografie-Workshop zu leiten. Zu Beginn breitete die damals 72-jährige Ilse ein buntes Tuch in der Mitte des Raumes aus, stellte einen Blumenstrauß darauf und erklärte mir strahlend: »Das mache ich immer, wenn ich ein Seminar gebe. Damit alle wissen: Heute ist etwas Besonderes!« Ihr Enthusiasmus hat mich damals sehr berührt und auf die ganze Gruppe extrem cooler, teils verkatert zum Workshop erscheinender junger Erwachsener abgefärbt. Und die Erinnerung berührt mich noch heute. Ich spüre in diesem »Heute ist etwas Besonderes« die aufrichtige Freude an der echten, nicht normierten Begegnung. Und in dem Blumenstrauß, den ich heute selber gerne zu Seminaren mitbringe, sehe ich ein Symbol für eine Struktur, die diese Begegnung feiert und damit Raum für Beziehung in Verschiedenheit öffnet. •